Seite erstellt am 18.08.1998
 Seite aktualisiert am 27.03.2017

Sektion > Gesundheit & Umwelt > GKV > Kooperation >
„Psychologen und Krankenkassen zusammen für Gesundheitsförderung" - Auswertung eines Podiumsgespräches bei einer Tagung 1994

(Die Auswertung beruht auf einer Tonbandaufnahme des Gespräches.)

(aus dem gleichnamigen Buchbeitrag von Maximilian Rieländer im Buch "Gesundheitsförderung als zukunftsorientiertes Berufsfeld", Bonn: DPV 1995)

Einleitung

Thematische und inhaltliche Auswertung

  1. Erweiterung des Spektrums der Gesundheitsförderung
  2. Betriebliche Gesundheitsförderung durch Organisationsentwicklung
  3. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche
  4. Forschung, Qualitätssicherung und Evaluation
  5. Gesundheitsförderung: ‘Markt’ und Wettbewerb - auch Koordination?
  6. Grenzen von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung

Ausblick


Einleitung

Die Planung des Podiumsgespräches

Als Organisatoren der Tagung planten Maximilian Rieländer und Lutz Hertel ein Podiumsgespräch „Psychologen und Krankenkasssen zusammen für Gesundheitsförderung“ mit Psychologen und Krankenkassen-Vertretern, die viel Fachkompetenz mitbringen. Für das Podiumsgespräch waren als Psychologen die Moderatoren der auf der Tagung gebildeten Arbeitsgruppen vorgesehen und für die Krankenkassen die für die Gesundheitsförderung maßgeblichen Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen AOK, IKK, BKK, TK, BEK.

Gemäß einer im Bundesausschuß Gesundheitspsychologie geplanten dreistufigen Strategie zur Förderung der Zusammenarbeit mit Krankenkassen diente  das Podiumsgespräch bei der Tagung einem öffentlichkeitswirksamen Gesprächsaustausch mit den Krankenkassen, um eigene Beiträge und Interessen an Zusammenarbeit darzustellen und Stellungnahmen der Krankenkassen zu erfragen, um die atmosphärischen Bedingungen von Zusammenarbeit zu prüfen und zu verbessern, nicht jedoch um schon verbindliche Absprachen anzuzielen.

Im Rahmen eines seit Mai 1994 bestehenden Kommunikationsaustausches von Maximilian Rieländer als BDP-Vertreter für Gesundheitsförderung und Rüdiger Krech als Mitarbeiter beim WHO-Regionalbüro für Europa in Kopenhagen erklärte sich Rüdiger Krech bereit, das Podiumsgespräch bei der Tagung zu moderieren.

Durch die Wahl von Herrn Krech als Moderator für das Podiumsgespräch wurden positive Wirkungen erwartet: Herr Krech werde als Mitarbeiter der WHO von allen Podiumsteilnehmern als neutrale und Kommunikation fördernde Instanz akzeptiert; er werde aufgrund seines positiven kommunikativen Stils die Moderation kompetent durchführen; eine kommunikative Beziehung des BDP mit dem WHO-Regionalbüro in Kopenhagen habe eine positive Öffentlichkeitswirkung.

Zum kommunikativen Verlauf des Gespräches

Die Moderation von Rüdiger Krech verlief positiv: flexibel, Kommunikation fördernd, am Gesprächsfluß orientiert, das Plenum positiv mit einbeziehend. Die Podiumsteilnehmer waren im Gesprächsfluß zu unvorbereiteten Stellungnahmen herausgefordert.

Wir Psychologen konnten mit den hochrangigen Krankenkassen-Vertretern zu einigen ausgewählten Themen Stellungnahmen austauschen. Wir haben teilweise gehört, was für die Krankenkassen wichtig ist. Für die weiteren Gespräche wissen wir einige konkrete Bereiche der Gesundheitsförderung, in denen wir Zusammenarbeit mit den einzelnen Spitzenverbänden der Krankenkassen planen können.

Im Gesprächsverlauf signalisierten die einzelnen Krankenkassen-Vertreter in verschiedenen Bereichen Offenheit und Abwehr zur Zusammenarbeit mit Psychologen. Die meiste Bereitschaft zu Zusammenarbeit äußerte die AOK (Sie hat unter den Krankenkassen die längste Tradition für die ‘Gesundheitsförderung’.).

Thematische und inhaltliche Auswertung

1. Erweiterung des Spektrums der Gesundheitsförderung

Eine Erweiterung des Spektrums von Maßnahmen der Gesundheitsförderung, die mehr anzielen als Risikofaktoren zu vermindern, wird von beiden Seiten begrüßt.

Aussagen der Psychologen

Emotionale, kognitive, kommunikative und soziale Fähigkeiten sind wegen ihrer gesundheitsfördernden Wirkungen zu fördern; strukturzentrierte Maßnahmen der Gesundheitsförderung sind z.B. in Betrieben, Kommunen und Schulen wichtig; Psychologen wollen erweiterte Maßnahmen der Gesundheitsförderung entfalten.

Aussagen der Krankenkassen

Die AOK zielt Kurse für bestimmte Lebensphasen und Umbruchsituationen an, z.B. mit den Themen ‘Vorbereitung auf die Elternschaft’, ‘Frauen in der Lebensmitte’, ‘Vorbereitung auf den Ruhestand’, wobei z.B. die Klärung von Einstellungen zum Altern eine wichtige Aufgabe für Psychologen sei. Für die Gesundheitsförderung ist auch interdisziplinäre Arbeit wichtig.

2. Betriebliche Gesundheitsförderung durch Organisationsentwicklung

Die betriebliche Gesundheitsförderung wird von beiden Seiten als ein besonders zukunftsträchtiger Bereich betont. Die IKK, AOK und BEK heben die betriebliche Gesundheitsförderung auch als ein Feld besonderer Kooperationschancen mit Psychologen hervor und haben dazu konkrete Beispiele erwähnt.

Aussagen der Krankenkassen:

Betriebliche Gesundheitsförderung ist vor allem eine Aufgabe der Organisationsentwicklung.

Betriebliche Gesundheitsförderung gilt als „kompaktes Gesundheitsförderungsinstrument“, in dem alle Komponenten für einen gesunden Arbeitsprozeß wirksam werden mit folgendem Nebeneffekt: „Gesunde Menschen, die sich am Arbeitsplatz wohlfühlen, sind unter gleichen Rahmenbedingungen kreativer; gemäß einer alten Erkenntnis heißt das: aus dieser Gesundheit kommt ein zusätzlicher Produktionsfaktor; man hat als Betriebsinhaber eine höhere Produktivität.“

„Es gibt im Rahmen der betrieblichen Abläufe und der Organisationsstrukturen so viele Ansatzpunkte, Gesundheit zu verbessern, die man erst einmal aus den Beschäftigten und ihrer Bedürfnislage herausholen muß und für die man eine Artikulation ermöglichen muß.“

Aussagen der Psychologen:

Betriebliche Gesundheitsförderung muß neben ‘Streßbewältigung’ weitere Themen umfassen, z.B. „Angst vor Arbeitslosigkeit bei Umstrukturierungsprozessen“, „Konflikte am Arbeitsplatz“, „Aggressionen“.

3. Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche

Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche ist ein weiterer wichtiger, aber oft vernachlässigter Bereich, auch da „keine Lobby für Kinder existiert“.

Vorrangig ist es wichtig, „auf die Lebenswelten der Kinder Einfluß zu nehmen“. Dazu ist das WHO-Projekt „Gesundheitsförderung in der Schule“ eine gute Möglichkeit. Die AOK plädiert für Möglichkeiten, „Gesundheitsförderung in den Schulen auf kommunaler Ebene mehr zu etablieren“: „Denn die Schule ist der Ort, wo wir Menschen anregen können, sich von Kindesbeinen an mit Fragen der Gesundheitsförderung vertraut zu machen.“

4. Forschung, Qualitätssicherung und Evaluation

Forschung, Qualitätssicherung und Evaluation sind nach übereinstimmenden Aussagen wichtige Bereiche für die Weiterentwicklung der Gesundheitsförderung.

4.1 Forschung

Herr Krech verwies auf die von der Bundesregierung geförderten Forschungsverbünde zu „Public Health“/Gesundheitswissenschaften.

Die Gesundheitspsychologie, erst Ende der 80er Jahre in Deutschland zum Begriff geworden, befindet sich im Anfang ihrer Entwicklung.

Die Krankenkassen teilten einerseits eine aktive Beteiligung an der Forschung mit, andererseits negative Erfahrungen wegen ‘Praxisferne’ der Forschung.

Herr Krech berichtete von einem WHO-Projekt „Training and Research in Public Health“ mit den Fragestellungen: „Wie kommen die Politiker und Forscher zusammen? Wie kommen die Anbieter von Gesundheitsleistungen und diejenigen, die Wissenschaft betreiben, enger zusammen?“

4.2 Qualitätssicherung

Die Qualitätssicherung soll auf der Psychologen-Seite künftig durch eine Fortbildung in Gesundheitsförderung für Diplom-PsychologInnen in dreifacher Weise gefördert werden: durch Qualitätskriterien und Qualifizierungsangebote für die fachliche Kompetenz (Strukturqualität), durch die Vermittlung übergreifender Methoden und nachahmenswerter Gesundheitsprojekte (Prozeßqualität), durch die Einübung von Evaluationsmaßnahmen (Ergebnisqualität).

Für die Qualitätssicherung zeigen die Krankenkassen widersprüchliches Verhalten: einerseits betonen sie die Wichtigkeit der Qualitätssicherung; andererseits setzen sie öfters mangelnd qualifizierte Kursleiter ein.

Zur Förderung der Qualitätssicherung durch den Einsatz qualifizierter Kursleiter hat die Fachgruppe Entspannungsverfahren Krankenkassen über Qualitätskriterien für die Leitung von Autogenem Training und Progressiver Relaxation und über eine Liste qualifizierter Kursleiter informiert.

4.3 Evaluation

Psychologen bringen durch ihre Ausbildung das Know-How für Evaluationsstudien mit und wünschen, daß die Krankenkassen dies verstärkt nutzen und finanzieren.

Für die kursbezogene Evaluation werden empfohlen: eine Vorstunde, um „sich ein Bild von den Teilnehmern zu machen und Daten zu erheben“, eine Nachbefragung und eine Katamnese.

5. Gesundheitsförderung: ‘Markt’ und Wettbewerb - auch Koordination?

Herr Krech: Gesundheitsförderung ist ein ‘Markt’ und Kostenfaktor. Gesundheitsförderung sollte in Zukunft sehr viel mehr an Marktanteilen bekommen; denn sie ist „dafür verantwortlich, daß ein großer Erfolg zu verzeichnen ist“, hat jedoch gegenwärtig einen sehr marginalen Anteil an den Gesamtausgaben.

Aussagen der Krankenkassen (vor allem die BEK):

Gegenwärtig werden etwa 0,5 % der Leistungsausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für den Bereich der Gesundheitsförderung ausgegeben.

„Gesundheitsförderung feiert im Moment bei den Krankenkassen Konjunktur. Es ist ein Instrument des Wettbewerbs.“ Die jährlichen finanziellen Zuwachsraten der Leistungen für Gesundheitsförderung sind sehr hoch. „Gesundheitsförderung ist ein nicht budgetierter Leistungsbereich der gesetzlichen Krankenkassen.“ Dieser Bereich ermöglicht den Krankenkassen eigene Profilierungen. „Dadurch, daß alle Krankenkassen Gesundheitsförderung auch unter Wettbewerbsgesichtspunkten sehen, setzt Gesundheitsförderung auch innovative Impulse frei. Und es gilt, diese zu nutzen.“

Eine wettbewerbsorientierte Aussage der TK: Wir wollen „für unsere Versicherten und für deren Bedürfnisse konkrete Angebote schaffen“.

Herr Krech betonte gegenüber dem Wettbewerbsstreben die Bedeutung von Koordination: „Es ist eine spannende Sache, daß es jetzt viel mehr Ausschüsse für Koordination gibt, die Ausschüsse der Spitzenverbände setzen sich zusammen und tun hier etwas. ... Wirkliche Koordination würde ... sehr viel helfen.“

6. Grenzen von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung

Herr Krech fragte nach den Grenzen im Bereich der Gesundheitsförderung.

Aussagen der Krankenkassen

Grenzen werden durch die Qualität, Inhalte und gesteckten Ziele der Gesundheitsförderung bestimmt.

Grenzen sind durch ‘Komm’-Strukturen gegeben, d.h. Menschen müssen zu vielen Angeboten der Gesundheitsförderung, z.B. zu Kursen, ‘kommen’; dazu brauchen sie viel Motivaton. Besser sind ‘Bring’-Strukturen, d.h. Gesundheitsförderung findet dort statt, wo Menschen leben, z.B. in Betrieben und Schulen.

Ausblick

Durch das Podiumsgespräch ist ein positiver, kooperationsorientierter Gesprächs­prozeß in Gang gekommen bzw. gefördert worden. Die AOK hat zu mehreren angesprochenen Themen ihre Kooperationsbereitschaft gezeigt.

Die Krankenkassen haben insgesamt für den Bereich der betrieblichen Gesundheitsförderung die klarsten Chancen zur Kooperation signalisiert, vor allem wenn betriebliche Gesundheitsförderung als Aufgabe von Organisationsentwicklung und als „kompaktes Gesundheitsförderungsinstrument“ betrachtet wird.

Die Anregung der Psychologen zur Erweiterung von Kursangeboten für personzentrierte Gesundheitsförderung fand weniger Anklang.

Qualitätssicherung halten die Krankenkassen ihren Aussagen nach für sehr wichtig, was jedoch teilweise im Widerspruch zu ihrer Praxis der Auswahl von Kursleitern steht. Die Anregung der Psychologen zu gezielter Evaluation wurde von den Krankenkassen nicht weiter aufgegriffen.