Seite erstellt am 18.08.1998
Seite aktualisiert am
27.03.2017
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"Gute Aussichten für das Gesundheitswesen durch die richtigen Entscheidungen“ -
Gesundheitspsychologische Stellungnahme zur Gesundheitsreform (als
PDF-Datei)
Presseerklärung anlässlich des Deutschen Psychologentags, Bonn, 2. 10. 2003
Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst MPH
Am 26.09.2003 wurde eine weitere Gesundheitsreform beschlossen, die nach Aussagen von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt „... die drängendsten Probleme im Gesundheitswesen“ zu lösen vermag. Es werden „eine Menge Wettbewerb“, differenzierte Angebote der medizinischen Versorgung, Informationen für die Patienten und eigenverantwortliche Gesundheitsförderung versprochen, die überall Geld sparen und gleichzeitig das Gesundheitswesen als entscheidenden Wirtschaftsfaktor in Deutschland stärken sollen.
Angesichts der eher kurzfristigen Wirkungen der zahlreichen vorangegangenen Gesundheitsreformen stellt sich die Frage, ob diese Maßnahmen wirklich ausreichen.
Das Thema Gesundheitspolitik lässt sich auch aus der Perspektive der Gesundheitspsychologie betrachten. Letztendlich geht es in der Politik, sowohl bei den betroffenen Bürgern, als auch bei den Politikern, immer um die Motivation zu einem Verhalten und den Versuchen, dieses Verhalten zu verändern. Jetzt soll das Gesundheitsverhalten jedes einzelnen Bürgers sich ändern und auch die Institutionen des Gesundheitswesen werden vom Bundesgesundheitsministerium dringend zu Änderungen aufgerufen. Die Prozesse von Motivation und Verhalten sind nun eine Domäne der Psychologie, wobei der Zweig der Gesundheitspsychologie sich intensiv mit den Prozessen im Menschen beschäftigt, die seinen Umgang mit Gesundheit und Krankheit bestimmen.
Wie müsste also eine erfolgreiche Gesundheitspolitik aus der Perspektive der (Gesundheits-)Psychologie aussehen?
Generell lässt sich sagen, dass der Mensch Veränderungen gegenüber eher abgeneigt ist. Am wohlsten fühlt er sich in einer stabilen Umwelt, in der nur geringe Anpassungsleistungen an geänderte Verhältnisse gefordert sind. Je länger bestimmte Voraussetzungen bestanden haben, um so eher möchte der Mensch, dass diese Bedingungen auch so bleiben. So hat sich z. B. eine deutliche Anspruchshaltung entwickelt, was die zu erwartenden Leistungen des Gesundheitssystems angeht.
Der deutsche Bürger ist daran gewöhnt (worden), sehr umfassend versorgt zu werden: Er hat nicht nur bei jeder Befindlichkeitsstörung und Krankheit Anspruch auf eine hervorragende medizinischen Versorgung, sondern er bekommt diese im Regelfall nahezu umsonst. So haben sich innerliche Einstellungen gebildet, die normalerweise sehr stabil und nur sehr schwer veränderbar sind. Genau diese Einstellungen und Erwartungen, sowohl an das Gesundheitssystem, als auch an das eigene Gesundheitsverhalten müssten sich aber ändern, wenn das GMG und weitere Reformen, z. B. zur Finanzierung des Gesundheitswesens, erfolgreich umgesetzt werden sollen. Es ist mit erheblichen Widerständen zu rechnen, wenn nun vom Bürger verlangt wird, diese Ansprüche einerseits aufzugeben und andererseits dafür noch mehr zahlen zu sollen. Um die angestrebte verstärkte Selbstverantwortung für Gesundheit wirklich durchzusetzen, bedarf es also langfristiger Bemühungen und überzeugender Informationen, z. B. auch von anerkannten Meinungsführern innerhalb der Gesellschaft. Dies ist bislang sicherlich nicht in ausreichendem Maße erfolgt. So ist auch damit zu rechnen, das die Bürger eher eine Verweigerungshaltung einnehmen und versuchen werden, die Schlupflöcher des neuen Systems herauszufinden.
An welchen Hebeln müsste aus gesundheitspsychologischer Sicht eine Reformpolitik für das Gesundheitswesen ansetzen, um wirklich erfolgreich die innere Haltung und das äußere Verhalten der Bürger zu ändern?
Die gesundheitspsychologische Forschung ist auf verschiedene Faktoren gestoßen, die das Gesundheits- und Krankheitsverhalten der Menschen beeinflussen. Dazu gehören:
- Verwundbarkeit: Das Gefühl dafür, wie stark man selbst von einer Erkrankung bedroht ist (dies ist ein sehr subjektiv geprägtes Empfinden und hängt nicht unbedingt mit der objektiven Gefährdung zusammen)
- Schweregrad der Erkrankung: Die ebenfalls subjektive Vorstellung davon, wie gravierend eine Krankheit ist
- Information: Ausreichende Informationen, sowohl über die Krankheit, als auch über die Möglichkeiten, diese zu verhüten oder günstig mit ihr umzugehen
- Kompetenzerwartung: Die Einschätzung darüber, welche Fähigkeiten und Kompetenzen man selbst mitbringt, um gesundheitsgerecht zu leben
- Ergebniserwartung: Die Erwartung, dass eine gesundheitsförderliches Verhalten auch wirklich zum angestrebten Ziel führen wird
- Kosten- und Nutzenerwägungen: Die Abwägung, ob der individuelle Einsatz (an Geld, an Aufwand, an Verzicht) sich im Verhältnis zum erwarteten Nutzen wirklich lohnt
- Handlungsanreize: Äußere oder innere Anreize, die zu einem eher gesundheitsförderlichen oder eher ungesunden Leben führen. Dazu können z. B. finanzielle Anreize zählen, aber auch die Vermeidung von Schmerzen oder gesellschaftliches Image
- Soziale Faktoren: Da der Mensch ein soziales Wesen ist, passt er sich im Allgemeinen auch den Werten, Normen und Verhaltensweisen um ihn herum an. Wer in Kreisen verkehrt, in denen es „trendy“ ist, gesund zu leben (z. B. nicht rauchen, fettarm essen, joggen), wird es leichter finden, ebenfalls diesen Lebensstil anzunehmen als jemand, der in Gruppen lebt, in denen Gesundheit eher gering bewertet wird
- Intention: Der Wunsch und das Vorhaben, etwas am eigenen Gesundheitsverhalten zu ändern („Ich sollte jetzt wirklich mal ein bisschen abnehmen...“)
- Volition: Die feste innere Überzeugung und das Wollen, ganz konkret etwas am Gesundheitsverhalten ändern zu wollen („Ja, ich will!“).
Dieses sind die Hauptfaktoren, die das Gesundheitsverhalten eines jeden einzelnen Menschen bestimmen und daher auch dringend beachtet werden müssen, wenn das Gesundheitsverhalten einer ganzen Bevölkerung hin zu mehr Gesundheitsförderung, Selbstverantwortlichkeit und Prävention verändert werden soll. Und genau dies sollte sicherlich die Hauptstoßrichtung der künftigen Gesundheitspolitik sein.
Der weitaus größte Teil der Erkrankungen und Todesfälle geht in Deutschland auf verhaltensabhängige Zivilisationskrankheiten zurück, die also durchaus der Gesundheitsförderung und Prävention zugänglich sind. Es ist also eine reine Frage der Logik, am Beginn des Prozesses, nämlich bei der Vermeidung von Krankheit, anzusetzen, als an dessen Ende, bei dem es dann vorwiegend um Kuration bereits eingetretener Krankheiten geht.
Welche Möglichkeiten gibt es für die Gesundheitspolitik, auf die Faktoren des Gesundheitsverhalten einzuwirken?
Um über die Verwundbarkeit von Erkrankungen und deren Schweregrad aufzuklären, bedarf es vor allem der
Information. Dies sollte schon in der Schule beginnen mit Gesundheitskursen, die nicht nur im Rahmen des Biologie-Unterrichts stattfinden, sondern wirklich die Themen chronische verhaltensabhängige Erkrankungen und persönliche Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt stellen. Sowohl die Krankenversicherungen, als auch z. B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung müssten deutlich mehr Unterstützung bekommen in ihren Aktivitäten hinsichtlich Aufklärung und Prävention.
Obwohl ein Großteil der Morbidität (Erkrankungen) und Mortalität (Sterblichkeit) auf verhaltensabhängige Zivilisationskrankheiten zurückgeht, herrscht hier noch ein erschreckendes Defizit an Aufklärung und Wissen. Heutzutage sind die Menschen nicht mehr so sehr von äußeren Einflüssen bedroht, wie Unfällen und Infektionskrankheiten, sondern von den Gefahren des langen Sitzens und übermäßigen Essens. Die gute Nachricht dabei ist, dass jeder es in der Hand hat, diese Bedrohungen selbst zu verringern.
Wenn es also durch Aufklärung und Information gelungen ist, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie etwas für ihre Gesundheit tun können und sollten, kommen die Faktoren
Handlungs- und Ergebniserwartung ins Spiel. Die Frage, die sich der Mensch hier stellt lautet: „Kann ich das überhaupt und bringt mir das was?“. Um diese Fragen positiv beantworten zu können, geht es jetzt um das praktische Tun, Üben und Ausprobieren. Theoretische Information allein bringt hier nicht weiter. Erst wenn man wirklich ausprobiert hat, wie man gesund kocht und dass das Ergebnis lecker schmeckt und tatsächlich zur gewünschten Gewichtsabnahme führt, wird man sich eine Ernährungsumstellung überlegen. Das Lesen einer Broschüre oder eines Kochbuchs reicht noch lange nicht aus.
Hier zeigt sich in Deutschland ein gravierendes Defizit. Nötig wären Kurse zu Bewegung, gesundem Essen, Nicht-Rauchen, individuellem Gesundheitsmanagement, Patientenschulungen für chronisch Kranke und vieles mehr. Tatsächlich ist aber gerade an diesem so wichtigen Bereich der Prävention wieder zugunsten der Kuration gespart worden (Änderung des § 20 SGB V). Die Chance ist leider auch versäumt worden, im Rahmen der Disease-Management-Programme mehr gesundheitspsychologisch fundierte Elemente von praktischem Tun und Einüben einzuführen.
Jeder von uns führt auch Kosten- und Nutzenerwägungen durch, wenn er eine wichtige Entscheidung trifft. Sache der Gesundheitspolitik und
-förderung wäre es dabei zu helfen, dass der individuelle Nutzen gesundheitsförderlichen Verhaltens die Kosten deutlich übersteigt und dies den Bürgern auch zu vermitteln. Es gilt, die Kosten und den Einsatz gering zu halten und den Nutzen möglichst groß werden zu lassen.
Auf die Kostenseite könnte z. B. eingewirkt werden durch kostenlose Gesundheitsangebote der Krankenversicherungen und die Unterstützung der Gesundheitsförderung am Arbeitsplatz, in der Schule usw. Von Krankenversicherungen, der BZgA, Vereinen und ähnlichen Institutionen sollten niedrig-schwellige Angebote gemacht werden, die nicht Askese und körperliche Verausgabung propagieren, sondern moderate Änderungen des Lebensstils, um den persönlichen Aufwand möglichst niedrig zu halten. Die Überzeugung, das ein gesunder Lebensstil tatsächlich nützlich ist, wächst einerseits aus entsprechenden Informationen, aber viel stärker noch aus dem tatsächlichen emotional geprägten Erleben, sich dann wohler zu fühlen und Spaß und Genuss daran zu haben.
Um die Kosten-Nutzen-Erwägungen positiv zu beeinflussen lassen sich auch geeignete
Handlungsanreize einsetzen. Die Bonus-Regelungen einiger Krankenversicherungen sind ein Schritt in diese Richtung. Auch Praxisgebühren wären hier einzuordnen, da sie einen Anreiz dazu bieten, einen Arzt wirklich nur dann aufzusuchen, wenn es notwendig ist. Die Bonus- oder Malus-Regelungen dürfen allerdings nicht dazu führen, dass die Menschen auf notwendige Maßnahmen verzichten, besonders nicht auf die Prävention. Auch wenn solche Ideen aus psychologischer Sicht effektiv sein mögen, ist jedoch eine gesellschaftliche Diskussion darüber nötig, ob sie auch ethisch gewünscht und vertretbar sind.
Sehr wirksam zur Veränderung von Verhalten sind auch soziale Faktoren. Gibt die unmittelbare soziale Umgebung (Familie, Freunde, Kollegen) eines Menschen ihm ideelle und praktische Unterstützung bei einem gesundheitsgerechten Verhalten und praktiziert es vielleicht sogar selbst? Dann wird es ihm deutlich leichter fallen, ebenfalls gesund zu leben. Kann er auf solche Ressourcen nicht zurück greifen oder stellen sich ihm sogar Hindernisse in den Weg, wird das Ergebnis viel schlechter ausfallen. Soziale Faktoren lassen sich selbstverständlich von der Gesundheitspolitik nur auf Umwegen beeinflussen. Geeignet ist hier der „Setting-Ansatz“, der gesundes Leben in den sozialen Umwelten fördert, in denen der Mensch sich viel aufhält: Betrieb, Universität, Schule, Gemeinde. Hier könnte die Gesundheitspolitik noch viel dafür tun, Gesundheit selbstverständlich zu machen. Dazu gehören z. B. eine verstärkte Zurückdrängung des Rauchens aus öffentlichen Räumen, Förderung von gesunder Ernährung und mehr Bewegung. In den USA zeigen solche Bemühungen bereits Erfolge: Die Rate der Herzerkrankungen geht dort seit einigen Jahren wieder zurück.
Außerdem könnte in öffentlichen Kampagnen die Wirkung von Vorbildern genutzt werden, die in der Gesellschaft als Meinungsführer anerkannt sind. Wenn solche Menschen gesundheitsförderliches Verhalten gesellschaftsfähig und sogar modern darstellen, hat es eine Sogwirkung auch auf andere.
Nun fehlen noch die Variablen Intention und Volition. Hier geht es um die Willensbildung und Entscheidung jedes Einzelnen, sich gesundheitsgerechter zu verhalten. Alle vorher genannten Faktoren wirken auf die Willensbildung ein. Um sie zu stärken und zu fördern sind Informationen und weitere Unterstützungen, z. B. durch Kurse, zwar notwendig, aber nicht ausreichend. Ganz individuelle begleitende Beratung kann nötig werden, um jemandem dabei zu helfen, sein persönliches Gesundheitsmanagement im Alltag umzusetzen. Dies ist ein Feld für Gesundheitsberater und –coaches. Leider werden solche Leistungen bislang kaum umfassend angeboten (sicherlich nicht in der normalen Arztpraxis) oder finanziert und auch das Berufsbild selbst ist nicht geregelt, so dass sich hier ein großer grauer Markt an „Heilern“, selbsternannten „Therapeuten“ aller Art und Gurus auftut.
Zusammenfassende Thesen:
Ein Großteil von Erkrankungen und Todesfällen, und damit auch der Inanspruchnahme und der finanzielle Belastung des Gesundheitswesens, werden durch das ungünstige Gesundheitsverhalten der Menschen (Zivilisationskrankheiten) ausgelöst.
Das Gesundheitsverhalten der Menschen hängt von bestimmten psychologischen und sozialen Faktoren ab, die sich gezielt beeinflussen lassen.
Das Gesundheitswesen ist in Deutschland personell und strukturell sehr gut ausgestattet. Die beklagten Mängel sind eher auf Ineffizienzen, mangelnde Qualität und ungeeignete Konzepte zurückzuführen. Da das Gesundheitswesen ein beachtlicher Wirtschaftsfaktor ist, ist es auch gerechtfertigt, dass hier viel Geld umgesetzt wird.
Die Gesundheitspolitik wäre in der Lage, durch geeignete Maßnahmen direkt oder indirekt das gesundheitsförderliche Verhalten der Menschen zu stärken und damit Krankheits- und Sterblichkeitsraten zu senken und auch unnötiges Leiden und unnötige finanzielle Ausgaben zu verhindern.
Dafür ist ein Verschiebung des Schwergewichts in der Gesundheitspolitik weg von der Kuration hin zur Prävention und weg von der rein medizinischen Versorgung hin zu einer auch psychologisch orientierten Beratung und Gesundheitsförderung nötig.
Prävention und Gesundheitsförderung müssen einen weit größeren Anteil der finanziellen Mittel im Gesundheitswesen erhalten.
Es müssen Strukturen und Kompetenzen (z. B. bei der beruflichen Ausbildung) geschaffen werden, um Gesundheitsförderung und Prävention flächendeckend einzuführen und die Menschen vom Sinn einer höheren Selbstverantwortlichkeit zu überzeugen.
Die Gesundheitspsychologinnen und -psychologen im Berufsverband der Deutschen Psychologinnen und Psychologen sind bereit, diese gesellschaftlichen Änderungen fachlich zu begleiten und die Regierung bei ihren künftigen Gesetzesvorhaben zu beraten.
Wenn die Gesundheitspolitik fundierte Entscheidungen in Richtung Selbstverantwortlichkeit und tatsächliche Bürgerbeteiligung, Unterstützung von Gesundheitsförderung und Prävention sowie mehr Transparenz, Qualität und Effektivität trifft, sind die Aussichten für das deutsche Gesundheitswesen als gut zu beurteilen.
Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst, MPH
Leiterin des Fachbereichs Gesundheitspsychologie im BDP |