Seite erstellt am 18.08.1998
Seite aktualisiert am
20.06.2006
|
Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst MPH
Inhalte:
Zum ausführlichen Text mit Grafiken
und Literaturverzeichnis (als PDF-Datei)
Gesundheitsinformationen per Telefon
„Demand Management“
Mit dem Stichwort „Demand Management“ ist gemeint, dass die
Krankenversicherung versucht, steuernd in die Nachfrage nach
Gesundheitsleistungen einzugreifen. Manches Mal wäre eine Behandlung z. B. auch
ambulant statt stationär durchzuführen oder es hätte der Besuch bei einem
Hausarzt ausgereicht, statt gleich mehrere Fachärzte zu konsultieren. In diesen
Fällen kann ein Demand Management dem Patienten helfen, das richtige
Versorgungsniveau für seine Bedürfnisse zu finden. Wenn der Patient sich Rat
einholt, bevor er mit seinen Gesundheitsfragen oder Beschwerden einen Arzt
aufsucht, können Unter- oder Überversorgung vermieden werden.
Überversorgung:
- Zu viele oder unnötige Leistungen
- Doppelleistungen
- Unnötige Krankenhauseinweisungen
- Unterversorgung:
- Zu wenig Leistungen
- Unterlassung erforderlicher Maßnahmen
- Unzureichende Prävention
- Risiko späterer Kostenexplosion durch Komplikationen
In den USA und in Großbritannien sind solche telefonischen „Lotsen“ durch das
Gesundheitssystem schon eingeführt. Mit umfassender Software-Unterstützung
(Triage-Software) werden dort Patienten, auch mit akuten Beschwerden, von
Krankenschwestern auf telefonischem Wege über die Einschätzung der Schwere der
Symptome und über die nötige Behandlung beraten (z. B. Notarzt oder Krankenhaus
sofort, Facharzt oder Hausarzt am nächsten Tag, abwarten).
In Deutschland sind die Diagnose und die individuelle Therapieempfehlung über
das Telefon nicht gestattet. Das Beratungsangebot muss also allgemeiner
gestaltet sein. Viele gesetzliche und private Krankenversicherungen bieten
ihren Kunden inzwischen eine, meist kostenlose, telefonische
Gesundheitsberatung über ein medizinisches Call-Center an. In den Call Centern
wird das Anliegen des Kunden meist von Krankenpflegepersonal entgegengenommen
und evtl. auch schon beantwortet. Bei weitergehenden medizinischen
Fragestellungen wird dann an einen entsprechenden Facharzt durchgestellt.
So können z. B. Adressen von Ärzten, Zahnärzten, Kliniken, Psychologen und
anderen Therapeuten in der Wohnregion des Kunden genannt werden. Vor einer
Reise können Auskünfte über die benötigte Reiseapotheke, evtl. wichtige
Impfungen und andere Gesundheitsratschläge eingeholt werden. Die Ärzte geben
auch Auskünfte zu Wirkungen und Wechselwirkungen von Medikamenten, Ursachen und
Behandlungsmöglichkeiten bestimmter Erkrankungen und zu den Themen Ernährung
und Prävention. Zudem kann vor elektiven Eingriffen oder anderen Therapien auch
eine ärztliche Zweitmeinung eingeholt werden.
Die häufigsten Diagnosegruppen, zu denen die Kunden der vorgestellten
Krankenversicherung im Jahr 2001 Fragen hatten, sind Krankheiten des
Muskel-Skelett-Systems, Krankheiten des Verdauungssystems und Krankheiten des
Auges und Ohres.
Rechtliche Probleme bei der telefonischen Beratung
Ein schwerwiegendes Problem für das Angebot so einer telefonischen
Gesundheitsinformation und -aufklärung stellt in Deutschland die
unbefriedigende rechtliche Lage dar. Die bestehenden rechtlichen Regelungen zu
Datenschutz und ärztlicher Schweigepflicht sind noch nicht an die neuen
technischen Möglichkeiten und Aufgabenfelder angepasst worden. Aus mehreren
Gründen hat die Krankenversicherung ein Interesse daran, in einen
Datenaustausch mit dem beauftragten Call-Center einzutreten:
Die Anrufer müssen beim Call-Center als Kunden der Versicherung identifiziert
werden können. Daher muss im Call-Center eine Datei vorliegen, anhand derer
anrufende Kunden identifiziert werden können. Aus Gründen der
Kundenfreundlichkeit sollte bei diesen Merkmalen auch Name und Adresse sein. Die
Übermittlung dieser Kundendaten an ein Fremdunternehmen ist aber ohne
ausdrückliche Einwilligung des Kunden datenschutzrechtlich umstritten.
Andererseits ist es unrealistisch zu glauben, dass alle Kunden sich die Mühe
machen eine entsprechende Einwilligungserklärung unterschreiben, für den Fall,
dass sie irgendwann das Gesundheitstelefon nützen möchten.
Die Versicherung hat ein Interesse daran, zumindest die Bereiche zu erfahren,
über die ein Kunde Anfragen gestellt hat. Sonst kann es passieren, dass ein
Kunde erst das Gesundheitstelefon mit einer medizinischen Frage anruft und
später auch noch die Versicherung mit einer Vertragsfrage, die sich darauf
bezieht. Dann weiss der zuständige Sachbearbeiter überhaupt nichts von dem
ersten Kundentelefonat, obwohl der Kunde doch beide Male, jedenfalls für dessen
Empfinden, mit dem gleichen Haus gesprochen hat. Aus Gründen der ärztlichen
Schweigepflicht (§ 203 StGB) ist es den Call-Agents aber nicht einmal gestattet,
der Versicherung mitzuteilen, was für einen Facharzt der Kunde gesucht hat.
Weitere kritische Faktoren
Ein weiteres Problem, das nicht verschwiegen werden soll, ist die Technik.
Die Koordinierung von zwei Unternehmen mit unterschiedlichen Telefonanlagen und
verschiedenen Datenbanksystemen so zu verbinden, dass man sich im legalen
Rahmen bewegt und die Systeme ohne allzu großen Aufwand miteinander vernetzt
werden können ist ein aufregendes Unterfangen. Sie kennen ja sicherlich den
kürzesten Computer-Witz: Sagt der PC-Experte: „Das haben wir gleich!“. Man
sollte also das Unerwartete erwarten und bei der Planung solcher Projekte immer
Zeitreserven für technische Schwierigkeiten einbauen.
Aus Erfahrung lässt sich inzwischen sagen, dass das Angebot eines
Gesundheitstelefons durch die Krankenversicherung kontinuierlich kommuniziert
werden muss. Die Nutzungszahlen bleiben über die Zeit hinweg nicht konstant,
sondern sind sehr abhängig von den Mobilisierungsmaßnahmen. Offensichtlich wird
entweder das Angebot wieder vergessen oder die Telefonnummer wird verlegt, wenn
nicht gerade akuter Bedarf an Beratung herrscht. So kommen Nutzungskurven
zustande, die nach einer Mobilisierungsmaßnahme, z. B. einem Info-Brief; steil
ansteigen und dann nach und nach wieder abfallen (s. Grafik zur Nutzung eines
Gesundheitstelefons).
Medizinische Auskunfts- und Call-Center in
Deutschland
Gesundheitsinformationen im Internet
Unterschiedlicher Aktivierungsgrad der Nutzer
Es gibt verschiedene Wege, Gesundheitsinformationen im Internet an den Nutzer
zu bringen und ihn einzubeziehen. Eine Möglichkeit besteht darin, ein
allgemeines Gesundheitsportal mit einem umfassenden Informationsangebot in das
Netz zu stellen. Diese Art von Gesundheitsportalen startet häufig mit einem
eher lexikalischen Angebot von Nachschlagewerken und Artikeln, z. B. über
bestimmte Erkrankungen, Medikamente oder auch mit einer Therapeutensuche.
Anspruchsvoller und für den Nutzer sehr viel ansprechender sind zusätzliche
interaktive Elemente. Beispiele dafür sind Tests, die in Anlehnung an
herkömmliche Papier-und-Bleistift-Tests konzipiert wurden. Es gibt aber auch
anspruchsvollere Verfahren, die das Ergebnis gleich berechnen und graphisch
darstellen, z. B. Risikotests für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder die
Möglichkeit zu errechnen, ob die eigene Figur eher dem „Apfel-“ oder dem
„Birnentyp“ entspricht.
Noch intensiver wird die Einbeziehung des Internet-Nutzers bei den Angeboten,
die eine aktive Beteiligung erfordern: z. B. beim Chat (entweder als
Experten-Chat, bei dem einem Experten Gesundheitsfragen online gestellt werden
können oder beim Laien-Chat, bei dem medizinische Laien ihre Erfahrungen
austauschen) oder bei einer e-mail-Anfrage direkt an einen Arzt. Noch
weitergehende Angebote sind z. B. Rückenschulen und Fitness-Programme, die
direkt am Bildschirm nachgeturnt werden können, oder ganze Kurse zum Abnehmen
oder zur Optimierung der körperlichen Fitness.
Gesundheitsinformationen im Internet nach dem Grad der Aktivierung des Nutzers:
- Lexikalische Informationen (Nachschlagwerke, Artikel)
- Tests mit einfacher Auswertung
- Tests mit anspruchsvoller Auswertung und grafischer Darstellung der Ergebnisse
- Chats (Experten-Chat, Laien-Chat, moderiert oder offen)
- Übungen zum Mitmachen, z. B. Fitness-Programme
- Fortlaufende Kurse mit Aufgaben zum Mitmachen, z. B. zur Gewichtsreduktion, Fitness-Steigerung
Nutzung von Gesundheitsinformationen im Internet
Da Gesundheitsinformationen immer noch zu den meist gesuchten Themen im
Internet gehören, ist ein reger Zulauf zu diesen Angeboten zu verzeichnen.
Gründe, warum Menschen im Internet nach Gesundheitsinformationen suchen, sind zu
33,7 % persönliche Beschwerden und zu 28,5 % allgemeines Interesse (Umfrage der
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf, 2001). Nach einer weiteren Studie hatte
die Mehrzahl der Patienten (81 %), die regelmäßig im Internet nach
Gesundheitsinformationen suchten, chronische Erkrankungen (Eysenbach, 1999). Die
Patienten wünschen ganz präzise und detaillierte Informationen zu ihrem
spezifischen Gesundheitszustand. Allgemeine Gesundheitsinformationen im Web
sprechen sie nicht an, sie haben auch kein Interesse an Informationen über
Fragen und Daten des Gesundheitswesens.
Die vorgestellte Krankenversicherung erzielte gute Besucherzahlen, obwohl
das Gesundheitsportal nur den eigenen Kunden vorgestellt und nicht extensiv
beworben wurde.
Gerade weil das Medium Internet sehr leicht zugänglich ist sowohl für die
Nutzer als auch für die Informationsanbieter, gibt es ein deutliches
Qualitätsproblem. Viele Angebote sind einfach nur laienhaft, andere unseriös
und oftmals auch falsch. Gerade im Gesundheitsbereich, wo tatsächlich das
körperliche Wohl von dem Verhalten abhängen kann, dass diese Informationen beim
Leser auslösen, kann Fehlinformation fatal sein. Noch im Jahre 2000 erklärte Eysenbach, dass bis zu 80 % der Informationen im Internet unvollständig,
veraltet oder einfach falsch seien.
Qualitätssicherung von Gesundheitsinformationen im Internet
Vor diesem Hintergrund wurden inzwischen verschiedene Projekte gestartet, die
sich mit der Qualitätssicherung von Gesundheitsinformationen im Internet
befassen. Es handelt sich teilweise um Projekte, die von großen Institutionen
ins Leben gerufen wurden und teilweise um Projekte, die von interessierten
Experten initiiert wurden.
- DISCERN
Das DISCERN-Instrument wurde ursprünglich für den Gebrauch bei gedruckten
Patienteninformationen entwickelt. Das Original-Projekt bestand von 1996 - 1997
und wurde durch The British Library und das NHS Research & Development Programme
finanziert. Durch ein Rating-Verfahren einer Expertengruppe über bereits
bestehende Patienteninformationen zu Behandlungsalternativen von einigen
Krankheitsbildern, konnte ein standardisierter Kriterienkatalog für die
Qualität von Patienteninformationen erstellt werden. DISCERN kann von jedem
einzelnen zur Beurteilung der Qualität einer Publikation genützt werden, es ist
kein Vorwissen erforderlich. Anhand eines Fragebogens mit 15 Fragen zum
Informationstext kann eine Gesamtbewertung gewonnen werden. Zur Zeit wird vom
deutschen DISCERN-Online-Team an der Medizinischen Hochschule Hannover daran
gearbeitet, das DISCERN-Instrument auch für die Bewertung von
Patienteninformationen im Internet umzuarbeiten.
- HON (Health On the Net)
Die HON-Stiftung hat ihren Ursprung in einer Genfer Tagung im Jahr 1995 zum
Thema Telematik in der Gesundheitsversorgung. Im Anschluss an die Tagung
beschlossen Experten aus aller Welt, ein festes Gremium zu schaffen, um den
effektiven und verlässlichen Gebrauch der neuen Technologien für Telemedizin in
der Gesundheitsversorgung weltweit zu fördern. Seit 1996 existiert HON in Genf
in Form einer Stiftung. Es wurde der HON Code of Conduct für medizinische
Webseiten im Gesundheitsbereich erstellt. Dieser besteht aus 8 Prinzipien, die
Anbieter von Webseiten per Selbsterklärung anerkennen können und sie können auch
Mitglied werden.
- MedCERTAIN
(MedPICS Certification and Rating of Trustworthy Health Information on the Net)
Das MedCERTAIN-Projekt wurde 1999 von der EU finanziert und konnte im Jahr
2000 beginnen. Das Projekt soll ein dezentralisiertes System auf der Basis der
Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Organisationen sein. Mithilfe eines
Rating-Systems zur Selbst- oder Fremdbewertung der Webseiten können Patienten
und Konsumenten schädliche Gesundheitsinformationen herausfiltern und
Information von hoher Qualität identifizieren und aussuchen. Das
Rating-Instrument HIDDEL (Health Information Description, Disclosure and
Evaluation Language) stellt sehr detaillierte Fragen, anhand derer eine
Einstufung der Qualität der Webseiten (failed, level A, level „double A“, level
„triple A“) möglich ist. Die unterstützenden und mitarbeitenden Organisationen
und Personen, die die MedCERTAIN-Infrastruktur verwenden, haben sich in der
sogenannten „Heidelberg Collaboration“ zusammengefunden. Es besteht die
Möglichkeit, sich als potentieller Rater medizinischer Websites registrieren zu
lassen.
- afgis (Aktionsforum Gesundheitsinformationssystem)
Diese Initiative wurde im Jahr 1999 auf Initiative des deutschen
Bundesministeriums für Gesundheit gebildet. Zusammengeschlossen sind dort
Organisationen, Verbände, Unternehmen u. a., die sich aktiv am Aufbau eines den
Grundsätzen der Qualitätssicherung verpflichteten
Gesundheitsinformationssystems für BürgerInnen in Deutschland beteiligen wollen.
Die Akteure dieses Bündnisses entwickeln im Rahmen von Arbeitsgruppen selbst
ihre Ziele, Aufgaben und Organisationsform. Es werden in einem gemeinsamen
Prozess Qualitätskriterien zu Transparenz, Vermittlungsqualität und technischer
Qualität erstellt, die allerdings noch nicht alle vorliegen.
Einige Beispiele für Gesundheitsinformationen im Internet:
http://www.diegesundheitsprofis.de
http://gesundheitscout24.de
http://gesund.t-online.de/gesu/aktu/comm/cc/CP/cc-chat-bulimie.html
http://www.lean-and-healthy.de
http://www.netdoktor.de/teste_dich_selbst/Fakta/goldberg.asp
http://www.mellitux.de
http://www.xx-well.com
http://www.gesundheit-psychologie.de
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neue Medien natürlich neue Probleme
mit sich bringen, weil sie neue Strukturen und Herangehensweisen erfordern.
Andererseits ist ihr Vorteil, dass sie auch genau diese neuen Strukturen und
Herangehenweisen erzwingen und damit helfen, veraltete Strukturen zu ändern und
neue Ideen kostengünstig umzusetzen. Es eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten,
mit Menschengruppen zu kommunizieren.
Gerade weil es dabei immer um Kommunikation geht, werden auch neue
Anforderungen an die beteiligten Berufsgruppen gestellt. Die Gestaltung von
Telefonberatungs- oder Internet-Angeboten sollte nicht nur den ärztlichen und
technischen Berufsgruppen überlassen bleiben. Wenn diese Angebote
nutzerfreundlich gestaltet werden sollen, verfügt die PsychologInnenschaft
über das nötige Know-how.
Und wenn es darum geht, das Gesundheitsverhalten der Nutzer tatsächlich zu
beeinflussen, bedarf es gesundheitspsychologischer Kenntnisse, die bislang noch
viel zu wenig genutzt werden. Es reicht eben nicht, medizinisch richtige Inhalte
in ansprechender Form in das Internet zu stellen. Um die Menschen wirklich zu
Verhaltensänderungen zu bewegen braucht es auch motivationsfördernde und
aktivierende Elemente. Wünschenswert ist es also, dass PsychologInnen sich noch
mehr als bisher an der Entwicklung der neuen Medien und ihrer vielfältigen
Nutzungsmöglichkeiten beteiligen.
Weiterführende Links
FAQ Cybermedizin - Ein Beipackzettel zu Risiken und
Nebenwirkungen (aber auch Chancen) des Internets für Patienten und Mediziner (G. Eysenbach, 2000)
Gesundheitsinformationen im
Internet (Anke Scheiber, 1998) (http://www.uni-ulm.de/LiLL/senior-info-mobil/module/gesundheit.htm)
Internet und E-commerce werden auch den
Gesundheitsmarkt revolutionieren (J. Schmitt, M.Beeres, 2000)
Patients,
Physicians, and the Internet - Myth, Reality, and Implications (Boston Consulting Group, 2001)
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